„Die verlorene Welt“ « Z W »

2. Entdeckungen in der Perspektive des Romans

Der Roman stützt sich auf dieselben Grundannahmen, die die Erneuerungstendenzen seiner Entstehungsepoche prägten. Die Entdeckung wird sehr lebendig als ein Ideal dargestellt, das den Fortschritt vorantreibt. Dies beinhaltet Elemente einer Inbesitznahme, insofern der Einfluss des Entdeckers mit seinen Entdeckungen wächst. Demnach wird der Schwerpunkt im Folgenden auf diesen zwei Gesichtspunkten liegen.

2.1. Entdeckung und Erkenntnis

Das Land im Zentrum des Romans erscheint – sogar den fiktiven Zeitgenossen – so fremd, dass man sich seiner Existenz erst einmal vergewissern muss. In zweierlei Hinsicht muss es von ‚bloßen Legenden’ abgegrenzt werden: Auf seiner ersten Expedition sind es althergebrachte Überlieferungen der Urbevölkerung die, zusammen mit dem Zufallsfund der Hinterlassenschaften des Amerikaners (→ LW 22ff.), Challengers revolutionäre Entdeckungen herbeiführen. Der Status, der diesen Überlieferungen eingeräumt wird, ist aussagekräftig: Letztendlich werden sie als gegenstandslos abgewertet, sie gelten bestenfalls als geistige Geländer für den rational aus­gerichteten Forscher. (1)

Anhand geduldiger Nachforschungen gelingt es dem Professor aber schließlich doch, die Wahrheit aus einem Convolut mysteriöser Geschichten zu gewinnen. Indem er die Erfahrungen des Reisenden rekonstruiert, ist er in der Lage, nicht nur dessen Ende befriedigend zu erklären, sondern auch einen Weg ausfindig zu machen, dem andere folgen können (→ LW 28ff.). Dieses Ergebnis wird ausschließlich dadurch erreicht, dass scheinbar grundverschiedene, unverbundene Einzelheiten der Außenwelt rational schlüssig miteinander verbunden werden.

Nachdem er seine Funde – wenn auch nicht ganz vollständig – mit zurück gebracht hat, wird der Professor selbst zum Gegenstand kritischer Nachforschungen, da sein Bericht mit bekanntem, gesichertem Wissen schlicht unvereinbar scheint. (→ LW 8, 25, 32 u.a.). Die Reaktion darauf ist jedoch bezeichnend: persönliche Täuschung oder Betrug gelten als die einzigen Alternativen zum wahrheitsgemäßen Bericht. Die Richtigkeit des Berichts kann – insoweit besteht Einigkeit – entgültig  beurteilt werden, sobald ausreichend (empirische) Daten vorliegen  (→ LW 38f.).

Diese Haltung drückt sich metaphorisch in der Behandlung der Fotographie aus: Der Einwand lautet lediglich, das Bild selbst sei schadhaft und so unscharf, dass es nicht mehr interpretiert werden könne; die Wirklichkeitstreue einer unbeschädigten Fotographie bleibt unhinterfragt. Zudem ist die entscheidende Information durch einen Zufall – ja sogar durch einen Unfall  – auf der Rückfahrt verloren gegangen. (2) Es werden also die vorrübergehenden Begleitumstände als Hindernis des Wissensfortschritts gezeigt, nicht etwa Einflussfaktoren, die im Beobachtungsprozess selbst begründet liegen.

Angesichts von Challengers berüchtigten – und dabei möglicherweise bahnbrechenden – Behauptungen, wird eine gleichfalls typische Entscheidung getroffen: Als der Konflikt um seine Thesen auf einem Vortrag für die interessierte Öffentlichkeit eskaliert, werden drei ‚Personen untadeligen Charakters’ aus dem Publikum ausgewählt, die auf eine Expedition gehen sollen, um sie zu prüfen (→ LW 39f.). Unter seiner Führung „verschwinden sie ins Unbekannte“ (→ LW, Kap.7, S. 49ff.) und stellen während des gesamten nervenaufreibenden Abenteuers  ihre vielfältigen individuellen Talente (3) in den Dienst der gemeinsamen guten Sache, immer im Bewusstsein, dass „es unzweifelhaft [ihre] Pflicht ist, [ihren] ersten Bericht derjenigen Institution  zu abzustatten, von der [sie ihren] Ermittlungsauftrag erhalten haben“ (LW 159, Ü.d.A.) – ein Bericht, der unbedingt unwiderleglich und tatsachengetreu ausfallen muss.

Challengers überraschende Ankündigung, er bestehe darauf, die Expedition selbst zu leiten (→ LW 53), verstärkt insofern nur das allgemein geteilte Empfinden persönlicher Verantwortung und das darin liegende Vertrauen, dass respektable Stellvertreter, ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend, Richtigkeit garantierten.

Während ihrer Reise gewinnen die Entdecker beständig neue Einsichten und Eindrücke. Dabei dient die Wissenschaft als Instrument, das die Sinne schärft und Orientierung stiftet – abgesehen davon, dass sie zugleich eigentliches Motiv und höheres Ziel der Unternehmung ist.

Als sie durch den Wald ziehen, empfindet Malone tiefe Bewunderung für die Vielfalt der Lebensformen; er verlässt sich jedoch bei allen Einzelheiten auf die Aussagen der Wissenschaftler (→ LW 58). Einmal erfolgreich erklettert, wird das Plateau im Folgenden vom Basislager aus schrittweise erkundet (→ LW 88).

Wissenschaftlichkeit erfordert notwendigerweise eine sehr spezielle Haltung von Seiten des Beobachters. Er muss sich aus seinen eigenen gegenwärtigen Bedingungen ausreichend lösen (4) – auch in Gefahr oder unter Schmerzen (5)– und sich fortwährend intensiv bemühen, Genauigkeit und Richtigkeit zu erreichen. Außerdem benötigt er zwingend eine solide Wissensbasis (→ LW 61) und einen analytischen Bezugsrahmen als Basis für eigene Schlussfolgerungen. Dies beinhaltet, dass wissenschaftliche Wissensbestände von jeglicher Perspektive unabhängig sind (6); die Perspektive beinflusst – ganz gleich welche Bedeutung sie zunächst für den Beobachter hatte – nie das Ergebnis. Der Wissenschaftler hebt sich durch eine solche besondere Veranlagung von seinen Mitmenschen ab. (7)

Zweifellos wird die gesamte Konzeption im Roman satirisch aufgegriffen. Professoren die sich in „pausenlosen Zankereien“ (LW 57) ergehen, unter ihnen eine „ganz unmögliche Person“ (LW 13, Ü.d.A.) passen nicht so recht ins Bild – wissenschaftliche Debatten, die zu persönlichen Kleinkriegen geraten und Vorträge, die etwas von einem Spektakel an sich haben, umso weniger (→ LW 32ff., 160ff.). Dennoch vermittelt dieses satirische Portrait eines Insiders eher humorvolle Zustimmung als Kritik: Bei all ihren Streitigkeiten sind die Professoren doch in ihrem gemeinsamen Streben, ihrer Suche, vereint: Es finden sich keinerlei Hinweise, dass das „anhaltende Duett“ (LW 96, Ü.d.A.) ungleicher Stimmen letztendlich nicht zur Wahrheit gelangen könnte.

Das Konzept selbst bleibt also unangetastet, wenn auch ein wenig erweitert: Besondere, außerordentliche und innovative Aufgaben erfordern gelegentlich eine exzentrische Ausnahmepersönlichkeit, die gesellschaftlich gesetzte Grenzen überschreitet (8), um schließlich jedoch wieder erwartungsgemäß ins System integriert zu werden (→ LW 167).

Der Roman bringt seine Kernidee von wissenschaftlicher Objektivität in einer weiteren erkenntnistheoretischen Metapher zum Ausdruck: als Malone überraschend auf den Gedanken kommt, eine Karte zu zeichnen, um das Erkenntnisstreben der Expedition mit den drängenden praktischen Erfordernissen des Augenblicks in Einklang zu bringen.

Indem er einen Baum unter beträchtlichem Einsatz hinaufsteigt, distanziert er sich vom Beobachtungsgegenstand (sprich: dem Land), um eine umfassendere Perspektive zu erlangen. Obgleich er nicht nur mit seinen eigenen körperlichen Grenzen, sondern auch mit unmittelbar drohender Gefahr konfrontiert wird, gelingt es ihm trotzdem, die benötigte Information sicherzustellen (→ LW 104ff.). Dies beinhaltet, dass er von seiner recht unglücklichen Position im Baum aus alle relevanten Einzelheiten nicht nur erkennen, sondern auch aufzeichnen kann.

Letztlich entwirft der Roman ein erhabenes Idealbild der Wissenschaft: Die Wirklichkeit, wie sie sich unter den Augen aufmerksamer Beobachter ausbreitet, erschließt sich Geist und Denken vollkommen. Sie besteht aus „Rätseln“, die auf eine bestimmte, einzig richtige Art  (9) zu „entziffern“ sind. Den Nachforschungen scheinen nur durch einen Mangel an Ressourcen und physische Gefahren Grenzen gesetzt zu sein (→ LW 104ff.). Dementsprechend entspricht das Bild von Maple- White- Land, das die Expedition dem Komitee zu Hause vermittelt, genau dessen tatsächlichen Gegebenheiten.

In dieser Sicht vereinigt das Unbekannte (10) Faszination und Minderwertigkeit auf sich – es erhält seinen Wert durch die neuen Möglichkeiten, die es bietet, und auch dann nur in Verbindung mit seiner Entdeckung. Dies beinhaltet ein typisches Besitzergreifen (11).


(1)
Professor Challenger berichtet, er habe seine Schlussfolgerungen aus angestammten Legenden über den bösen Geist „Curupuri” abgeleitet: „‘Nun sind sich alle Stämme über die Richtung, in der Curupuri lebt, einig. Es war dies dieselbe Richtung, aus der der Amerikaner gekommen war. Etwas Schreckliches lag in dieser Gegend. Es war meine Sache, herauszufinden, was es war. Ich überkam den außerordentlichen Widerwillen der Einheimischen – ein Widerwillen, auch nur darüber zu sprechen – [...]‘“ (LW 26, mehrfach gekürzte Passage, Ü.d.A.); vergl.. auch  LW 36.
(2)
Challenger zufolge kam das „unbefriedigende Erscheinungsbild” der Photographie zustande, als sein „Boot bei der Fahrt flussabwärts in Turbolenzen geriet” und sein Behälter mit unentwickelten Filmen beschädigt wurde. Malone kommt zu dem Schluss dass  „ein harter Kritiker diese matte, trübe Fläche leicht fehlgedeuten” könnte (LW 26 f). Die beschriebene Beschädigung ist ohnehin eher metaphorischer als realistischer Natur.
(3)
Die Expedition ist – mit Lord John Roxton, dem praktisch veranlagtem Sportler als Gegengewicht zu den Gelehrten und dem jungen Journalisten Malone als Sprachrohr der Expedition, der zwischen Theorie und Praxis vermittelt – vorteilhaft zusammengesetzt. Ihre Zusammenarbeit verkörpert das Ideal des begabten Individuums im Dienste des Allgemeinwohls.
(4)
Nachdem er von einem bisher unbeschriebenen Insekt gestochen wird, erhält Malone die Ermahnung, eine „philosophische Gemütsverfassung” zu kultivieren, die „alle Werke der Natur gleichermaßen” (LW 86, Ü.d.A.) wertschätzt.
(5)
Als sich die Expedition der Gefahr von Kannibalen-Stämmen ausgesetzt glaubt, merkt Malone an, die beiden Professoren hätten die besondere „Tapferkeit des wissenschaftlichen Geistes”: „Die Natur hat es in ihrer Güte so eingerichtet, dass das menschliche Gehirn nicht an zwei Dinge zugleich denken kann, sodass es, wenn es erst einmal bis über beide Ohren in Neugierde für die Wissenschaft steckt, für rein persönliche Überlegungen keinen Platz hat. Den ganzen Tag hindurch beobachteten unsere zwei Professoren, unter der unablässigen, undurchsichtigen Bedrohung, den Flug jedes Vogels […] mit manch einem scharfen Wortgefecht, jedoch ohne irgendein gesteigertes Gefahrenbewusstsein und mit geradeso wenig Beachtung für etwa trommelschlagende Indianer, als säßen sie zusammen im Rauchersalon des Clubs der Royal Society in der St. Jame's Street.” (lw 60f, Ü.d.A.).
(6)
Dies spiegelt sich auch in der Rolle Malones wieder der die „Erfahrungen, Erlebnisse und Eindrücke”  (lw 86) der Expedition offensichtlich verlustfrei bewahrt.  Die spielerischen Versuche des Textes, Literarizität zu reflektieren (→ etwa lw 86, 160ff.), ändern daran nichts.
(7)
Ihre Mitteilungen erscheinen schwer verständlich (→ lw 10 u.a.), ihre Verhältnis zur Welt als solches wird einmal sogar mit der Metapher “wissenschaftliche Masken” beschrieben (lw 138 ü.d.A.).
(8)
Dies mag die Weiterführung eines Gedankenstranges aus seinen überragenden Sherlock Holmes - Geschichten sein, deren Hauptfigur es gleichfalls schwer fällt, ein Leben in der Mitte der wohl etablierten Gesellschaft zu führen. Es stellt auch das erneuernde Potenzial der Wissenschaft heraus.
(9)
 Dieses Bild tritt ausdrücklich in zwei Gesprächsbeiträgen Challengers auf. (→ lw 136, 156).
(10)
Seine Bedeutung wird durch das 25-fache Auftreten des Begriffs „unbekannt …” – einschließlich seiner im Deutschen ggf. variierenden grammatikalischen Formen –  zusätzlich betont.
(11)
Das Unbekannte bringt Gefahren mit sich und entfremdet den Entdecker von seinem zivilisierten Ich (→ lw 139), doch ist es zugleich wundervoll und entlässt ihn als "besseren und tiefgründigeren Mann / Menschen [!]" (lw 158, Ü.d.A.).
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www.text-traeger.de · Autor: Paul - Christoph Trüper, 2005  - 2008.
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