2. Sherlock Holmes – Figur mit Methode
2.3. Die Methode im geschichtlichen Zusammenhang
Eine kritische Darstellung von Sherlock Holmes’ wissenschaftlich ausgerichteter Methode der Deduktion vor dem Hintergrund historischer Perspektiven, Konstellationen und Quellen. Mit Belegstellen aus A.C. Doyles Erzählungen.
Watson’s Bemerkung, sein Gefährte wäre „sicherlich verbrannt worden, hätte er ein paar Jahrhunderte früher gelebt” hat einiges für sich: (1) Ein Mensch, der sein Leben voll und ganz in wissenschaftlichen Nachforschungen gewidmet hätte und dabei in wundersamer Weise erfolgreich gewesen wäre, wäre im Mittelalter mit Sicherheit verfolgt worden – seine ‚dämonischen’ Begabungen wären ihm eine nutzlose Last.
Folgerichtig entspringt eine Figur wie Sherlock Holmes einer Zeit,
als
die (Natur-) Wissenschaft als solche traditionelle Überzeugungen
erfolgreich infrage stellte und schließlich als eine zusätzliche Art
der
Weltdeutung akzeptiert wurde: im Viktorianischen Zeitalter, dem
Viktorianismus.
Tatsächlich ist der Werkkanon von den Ideen eines neuen, rationalen
Zugangs zum Leben, wie sie sich in dieser Zeit entwickelten. Der
Detektiv verkörpert darum den idealen Wissenschaftler – seine
Methode enthält alle wesentlichen Elemente wissenschaftlicher
Forschung: An jedem Punkt seiner Nachforschungen lässt sich der
Wissenschaftler ausschließlich von objektiven Tatsachen leiten;
allgemein herrschende Ansichten, ja sogar die Folgen seiner
Forschungsergebnisse sind für ihn zunächst ohne Belang. Indem er alle
Fakten auf rein logischer Grundlage richtig deutet, ist er in der Lage,
eine Theorie zu bilden, welche die wahre Beschaffenheit des
vorliegenden Phänomens erklärt. Da sich der Forscher von jeglichen
Störeinflüssen befreit, besitzt die Erklärung, die er gibt, letzte
Gültigkeit. (2)
Ist die wissenschaftliche Arbeit an sich erst einmal erledigt, steht es
dem Wissenschaftler wiederum frei, die konkreten Auswirkungen seiner
Arbeit zu bedenken. Er kann etwa Rat erteilen oder selbst handeln – in
jedem Falle verliert er nie den Kontakt zum gewöhnlichen Leben, und
trägt Sorge dafür, dass seine Erkenntnisse klug genutzt werden.
Diese äußerst positive Haltung zur Wissenschaft ist typisch für den
Viktorianismus – war er doch „mehr als alles andere eine Epoche
des
Forschens und […]
des Entschlusses
”.(3)
Zu dieser Zeit erfuhr die (Natur-)Wissenschaft eine Blüte, sodass
sogar „der
Kleine Mann auf der Straße
” den Geist der Wissenschaft, der in der
Luft lag, fassen konnte „denn er sah [ihn] Tag für Tag die Welt
um
ihn herum umgestalten
”. Indem sich die (Natur-) Wissenschaft zur
angewandten Disziplin fortentwickelte, wuchs ihr Einfluss auf weite
Themenbereiche beträchtlich.
Die neue Art des Denkens und Argumentierens veränderte auch
verschiedene traditionelle (Glaubens-) Überzeugungen – denn, anders als
der Priester, konnte der Wissenschaftler seine
Aussagen durch sichtbare Belege stützen und sprach mit einer Autorität,
die er durch „seinen Erfolg in hunderten von soliden praktischen
Bereichen
” erlangt hatte.
Diese zweischneidige Entwicklung weckte große Hoffnungen und
schreckliche Ängste zugleich, doch es scheint ein allgemeines Empfinden
gegeben zu haben, die Wissenschaft sei
„Entschlusskraft und
Handeln, die Wissenschaft [sei] in der Offensive, die
Wissenschaft
könnte der Gott werden, Gott zu ersetzen.
”(4)
Es war offenbar eine in der damaligen Öffentlichkeit gerne
angenommene Überzeugung, die Wissenschaft werde letztendlich
verlässliche Lösungen bieten – sie sei, wie es ein Autor aus dieser
Zeit ausdrückte, „nicht etwa ein
vortreffliches
Ergebnis des menschlichen Fortschritts, dessen Bedingung oder
Begleiterscheinung, sondern der menschliche Fortschritt an sich
“.(5) Die Menschen vertrauten auf
die
Wissenschaft und deren Triumphe schienen ihnen zu diesem Zeitpunkt
Recht zu geben.
Der Werkkanon spiegelt viel von diesem positiven Klima des Wandels
wieder.reflects m uch of this positive atmosphere of change. In Wort
und Tat vertritt Sherlock Holmes die wissenschaftlichen Ideale der Zeit
in jeder Geschichte und überzeugt die Leser so davon, dass es in ihrer
Macht stehe, eine bessere Welt zu schaffen. Indem er seine Methode zur
Perfektion treibt, ist er in der Lage, Menschen in verzweifelten
Situationen beizustehen – auf seine Weise, erfüllt er das Versprechen,
dass die Wissenschaft für viele Menschen viktorianischer Zeit barg. Der
Detektiv würde niemals die Gültigkeit seiner Prinzipien in Frage
stellen sondern vielmehr, ganz wie der typische Gelehrte dieser
Epoche, „an ihnen den Rest [seines] Lebens sein Handeln
ausrichten
”.(6)
Besonders in seinen frühen Jahren deckten sich Conan Doyle's eigene
Ideen mit denen des idealen Wissenschaftlers aus seiner Feder.
Nachdem er von Beruf Arzt war, hatte die (Natur-) Wissenschaft
natürlich
großen Einfluss auf sein Denken – umso mehr, da ihn religiöse
Glaubensvorstellungen kaum überzeugen konnten (7).
Sein Vertrauen in die Wissenschaft verließ ihn nie völlig: Auch als
Spiritist versuchte er noch, seine Überzeugungen mittels rationaler
Argumente zu beweisen – spiritistische Vorstellungen und
wissenschaftliche Ideale widersprachen sich zu damaliger Zeit nicht
notwendigerweise. (8)
Es ist dieses Zutrauen zum rationalen Denken, das den Werkkanon in
die Tradition der Aufklärung oder sogar der Antiken Philosophie
stellt. (9)
Sherlock's Bruder Mycroft vervollständigt diesen idealistischen Entwurf
einer besseren Welt. Im Unterschied zu Holmes dienen seine enormen
Denkkapazitäten der Gesellschaft als Ganzes, da er die Regierung in
ihrem Streben nach richtigen Entscheidungen unterstützt und mit seiner
überlegenen Übersicht in politischen Angelegenheiten Katastrophen
verhütet. (10)
Auf den ersten Blick hinterlässt das viktorianische
Wissenschaftsbild einen robusten Eindruck – Holmes’ Methode scheint
demnach vollkommen zuverlässig zu sein.
Aufmerksame moderne Leser mögen viele ihrer Bestandteile kritisch
hinterfragen: Neuere Erkenntnisse haben die Grundannahme in Frage
gestellt, wonach „das Universum von Gesetzen beherrscht
[werde],
die unsere Vernunft entdecken und auf unsere Umwelt anwenden kann
”
(11), sodass sogar ein
Genie
wie Sherlock Holmes oder Einstein eventuell nicht in der Lage sein
könnte, die ‚letztgültige Wahrheit’ zu erlangen – immer vorausgesetzt,
dass sie überhaupt existiert.
In unserer eigenen Zeit wird es zunehmend schwieriger, auf
wissenschaftliche Theorien als absolut verlässliche Erkenntnisquellen –
weshalb wir wohl auch einräumen müssen, dass in unserer nicht fiktiven
Welt mit solch phänomenalen Ergebnissen wie denen eines Holmes
letztendlich kaum
gerechnet werden darf. (12)
Ganz davon abgesehen haben uns die Erfahrungen aus zwei Weltkriegen
– wenn nicht gar anderes – gelehrt, dass sich Wissen auch zur
gefährlichen Bedrohung für die Menschheit wandeln kann: Wer schließlich
sollte ein Genie davon abhalten, seine Talente zu missbrauchen? (13)
Aus all diesen Gründen mag die Methode wohl einiges ihrer
Glaubwürdigkeit,
nicht ihrer Anziehungskraft verloren haben., die weit in unsere Zeit
hineinreicht.