3. Sherlock Holmes – Wurzeln in Wirklichkeit
3.3. Gerechtigkeitsproblematik
Eine Analyse der Gerechtigkeitsvorstellungen in A.C. Doyles
Sherlock
Holmes- Erzählungen – sowohl im geschichtlichen Zusammenhang als auch
mit Blick auf grundlegende ethische Anliegen. Mit zahlreichen
Textbeispielen.
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist eng mit Detektivgeschichten
verbunden, handeln sie doch von Fehlverhalten jeglicher Art und der
Strafe, die darauf folgt.
In seinen Geschichten nimmt Conan Doyle eine sehr moderne
Sichtweise vorweg, indem er berücksichtigt, dass in einer
unvollkommenen, nicht-idealen Welt Geschriebenes Recht und
Gerechtigkeit gelegentlich entscheidend auseinander gehen.
Obwohl diese Unterscheidung in modernen europäischen Ländern nahezu
allgemein anerkannt ist, war sie zu viktorianischer Zeit, als
Autoritäten wie der Staat vielen eine verlässliche Orientierungsquelle
waren, weit weniger üblich.
Sherlock Holmes hingegen erkennt an, dass er gelegentlich „mit
[seiner] Entdeckung des Verbrechers weit mehr wirklichen Schaden
angerichtet [habe], als dieser selbst jemals mit seinem Verbrechen
”,
und dass es für gewöhnlich besser ist „mit dem Englischen
Gesetz
[seine] Spielchen zu treiben, als mit dem eigenen Gewissen.
”(1) Man braucht kaum zu betonen, dass
die Auffassung des Detektivs der Conan Doyles entspricht, dessen „bereitwilliges
Mitgefühl immer auf Seiten der Benachteiligten war
”, da er „von
klein auf wusste, was es hieß, Unbeliebtheit und Vorurteilen ausgesetzt
zu sein
” – auch wenn er im Grunde ein eher konventionsorientierter
Mensch war.(2)
Im Werkkanon tritt diese Problematik in vielen verschiedenen
Schattierungen auf(3):
Zunächst ist da der bestmögliche Fall, der, obgleich innerhalb des
Werkkanons sehr häufig, nicht näher behandelt werden muss: Der
Delinquent ist rechtlich wie moralisch schuldig; er wird verhaftet und
erhält die angemessene Strafe für seine Taten.
Des weiteren gibt es Fälle, in denen der Täter zwar moralisch
gesehen
schuldig ist, aber nicht auf Grundlage des Gesetzes bestraft werden
kann: entweder, da er intelligent genug ist, der Strafverfolgung zu
entgehen oder aber keine seiner Handlungen formal rechtswidrig sind.
Manchmal scheitert hier sogar Holmes daran, in solchen Situationen
Gerechtigkeit wiederherzustellen. Unter Umständen kann er sich jedoch
dazu entschließen, zur Verteidigung der Gerechten Sache selbst das
Gesetz zu brechen – dann nutzt er seine außergewöhnlichen Fähigkeiten,
um sein Tun vor der Polizei zu verbergen. Dies verleiht seinem
Charakter zusätzlich einen liebenswerten, rebellischen Zug und stellt
seine Überlegenheit gegenüber der offiziellen Polizei unter Beweis.(4)
Zwei Fälle, in denen es um ein solches Problem geht, wurden bereits in
anderem Zusammenhang erwähnt: Im „Adventure of Charles
Augustus
Milverton”, finden sich Holmes und Watson beim Versuch, heikle
Dokumente von einem skrupellosen Erpresser zurückzuerlangen, in
der ungewohnten Rolle der Eindringlinge (bzw.
Einbrecher) wieder.
Holmes bringt hier seine moralische Beurteilung der Angelegenheit klar
zum Ausdruck, als er einräumt:
„[…] Ich glaube, es gibt bestimmte Verbrechen, an die das Gesetz nicht heranreicht, und die daher, zu einem gewissen Grad private Vergeltung rechtfertigen. Meine Sympathien liegen eher auf Seiten der Verbrecher als [der] des Opfers […] .”…und den Polizisten, der in dem Fall noch zu keinerlei Erklärung gekommen ist, aufs Korn nimmt „‚
Das ist ziemlich vage’
,sagte Sherlock Holmes.‚
Sowas! Das könnte ja eine Beschreibung von Watson sein!'”
In „A Question of Identity” bleibt Holmes nur, sich der Meinung des Stiefvaters anzuschließen, dieser habe „
von Anfang an nichts Vorwerfbares getan”, und ihn freizulassen. Dennoch gibt er eine bemerkenswerte psychologische Interpretation des Vorfalls, die die eigene Meinung seines Verfassers widerspiegelt:
„Da haben wir aber einen kaltblütigen Schurken!” sagte Holmes lachend, […] „Der Kerl wird sich von Verbrechen zu Verbrechen emporhangeln, bis er etwas sehr Schlimmes tut und am Galgen endet. Der Fall war, in mancher Hinsicht, nicht völlig ohne jedes Interesse.” (aus: A Case of Identity)
Daneben gibt es eine gewisse Zahl Fälle, in denen Holmes die Unschuld eines Verdächtigen beweist. Darunter findet sich eine spektakuläre Erzählung mit dem Titel „The Adventure of the Norwood Builder”: ein schuldloser Mann entgeht knapp einem erstaunlich gut geplanten Angriff auf sein Leben, als der wahre Täter dank Sherlock’s scharfer Beobachtungsgabe gefunden wird. Der Detektiv kann einem Verbrecher sogar Mitgefühl entgegenbringen, wenn er den Eindruck hat, dass aufgrund besonderer Umstände kein Gerichtshof ein angemessenes Urteil fällen könnte: Entweder rechtfertigt der Hintergrund einer rätselhaften Begebenheit das fragliche Verbrechen hinreichend(5), oder die persönliche Situation des Täters legt nahe, dass Gnade gewährt werden sollte.(6)
Bei einer letzten Gruppe von Fällen schließlich liegt es nicht in
der Macht irgendeines Sterblichen, Gerechtigkeit zu schaffen:
In einigen Situationen ist sogar ein Genie wie Holmes nicht in der
Lage, irgendwelche Einzelheiten des Falles in Erfahrung zu bringen,
sodass, in diesen seltenen Fällen, Delinquenten ohne Strafe bleiben.(7)
Im Übrigen können widrige Umstände, die er nicht beeinflussen kann, die
Pläne des Detektivs zunichte machen und so den Gang der Gerechtigkeit
stören.
Ein Verbrecher könnte sogar während oder kurz nach den Ermittlungen
sterben und dadurch einem Gerichtshof völlig anderer Art unterworfen
sein. Diese metaphysische Art der Strafe verweist in eine Zeit, als der
Glaube an einen – wie auch immer genau gearteten – metaphysischen
Bereich (eine solche Sphäre) noch
stärker war als heute.(8)
Ein heutiger Autor anspruchsvoller Kriminalliteratur würde wohl zu
einer ausgeprägt kritischeren Haltung gegenüber den verschiedenen
staatlichen Institutionen neigen; sein Held wäre wohl weniger
erfolgreich darin, Gerechtigkeit zu schaffen und öfter im
Zweifel darüber, was eine gerechte Entscheidung denn überhaupt sei.
Nichtsdestoweniger schätze ich die Haltung zu Gerechtigkeitsfragen, die
Conan Doyle im Werkkanon einnimmt: Er erkennt an, dass es nicht immer
einfach ist, Gut und Böse zu unterscheiden, da das Leben komplizierte
Situationen mit sich bringen kann. Deshalb scheint es klug, nicht zu
rasch oder zu hart im Urteilen zu sein, wie es auch die Texte anregen.
Human und doch zugleich ziemlich realistisch, ist seine Sicht so alles
andere als veraltet.