4. Sherlock Holmes – Figur und Kult
4.2. Die emotionale Verwurzelung des Kults – Gedanken und
Schlussfolgerungen
Eine Untersuchung zum Verhältnis Autor/Erzähler – Leser und den
emotionalen Verbindungen, die die bleibende Faszination und den
Sherlock Holmes- Kult tragen. Eine mehrschichtige, spekulative
Interpretation zu Texten A.C.
Doyles.
"Sherlock Holmes ist immer noch die aller-inspirierendste
Persönlichkeit für mich."
Diese Worte aus einem wirklichen Online- Gästebucheintrag (1) zeugen von tiefer Bewunderung für
eine
Persönlichkeit, die nie über ihre zwei Buchdeckel hinausgekommen ist.
Was also ist so faszinierend und anziehend an der Welt des Sherlock
Holmes? Meiner eigenen Erfahrung nach glaube ich, dass wir der
Einladung, den Detektiv mit in unser Leben hineinzunehmen, deshalb
gerne nachkommen, weil einige unser grundlegendsten Bedürfnisse und
Wünsche in den Erzählungen ihren Niederschlag finden.
Unter diesen nimmt speziell das Verlangen, dem Alltag zu entfliehen und
die
Dinge von einer anderen Seite zu sehen, im Werkkanon eine wesentliche
Rolle ein. Für Menschen, die gern lesen, sind Bücher eine
Art Gefährt, die sie in andere Welten tragen – in diesem Fall gibt es
verschiedenste Gründe, warum Leser besonders gerne bereit sind, an die
Welt zu glauben, die aus den Erzählungen entsteht.
Zunächst einmal ist Holmes eine vielschichtige und
faszinierende Figur mit einem großen Reichtum an Charakterzügen, der
das Lesepublikum (bzw. die Öffentlichkeit) von seiner Existenz
überzeugt. Tatsächlich vermitteln ja die Texte selbst aktiv den
Eindruck, Tatsachenberichte zu sein, indem der Erzähler die Rolle des
getreuen Chronisten einnimmt, der aus seiner eigenen Erinnerung an
Vergangenes schreibt, und in
einigen Fällen klar seine eigene Beteiligung darstellt:
I had seen little of Holmes lately. My marriage had drifted us away from each other.
(aus: A Scandal in Bohemia)I feel that no memoir of him [Holmes] would be complete without some little sketch of this remarkable episode.
(aus: The Nobel Bachelor)[One of these cases], however, deals with interests of such importance and implicates so many of the first families in the kingdom that for many years it will be impossible to make it public.
(aus: The Naval Treaty)
Aussagen wie diese lassen, neben zahlreichen Anspielungen auf
das wirkliche Zeitgeschehen, den Leser glauben,
Holmes und Watson hätten in der Tat im Viktorianischen London gelebt –
umso mehr in einer Zeit, in der die Leute gewöhnlich auf das
vertrauten, was sie lasen. Letztlich besteht auch ein Mensch aus nicht
allzuviel mehr als seiner Lebensgeschichte und seinen einzigartigen
Charakterzügen.
Dementsprechend spielt die viktorianische Kulisse als solche im
Werkkanon eine wichtige Rolle: Die Erzählungen beschwören das
romantische Bild einer Welt herauf, in der „der Englische Diener
einem Tee mit Gebäck”
an den bequemen Wohnzimmersessel bringt, in
der klappernde Hansom-Droschken und der geheimnisschwangere Londoner
Nebel zum Alltagsleben gehören, und die Menschen für ihre „gepflegte
Kleidung”
und ihr „vornehmes Betragen”
bekannt sind.(2)
Viele der viktorianischen Leser fanden, denke ich, eigene Träume
in den Erzählungen wieder: Vielleicht hatte Sherlock Holmes etwa
eine gesellschaftliche Stellung inne, die sie erreichen wollten,
vielleicht ähnelten manche seiner Klienten ihnen in irgendeiner Weise,
oder aber die Geschichten enthielten wieder andere
Versprechungen für einige.
Selbstverständlich verfällt auch der heutige Leser dem Charme der
Geschichten, doch für ihn erzählen sie von einer glanzvollen
Vergangenheit, als das Leben scheinbar noch einfacher, und zudem
angenehm anders, war als sein eigenes .
Dennoch gibt es darüber hinaus zwei weitere, weitaus stärkere
Kräfte, die den Leser in die Geschichten hineinziehen: das Bedürfnis,
in die vielfältigen Geheimnisse unserer Umgebung Einblick zu
erlangen, und den existenziell tief verwurzelten Wunsch nach Ordnung
und Gerechtigkeit, die sich beide im Verhalten eines Kleinkindes
zeigen: Ein kleines Kind entdeckt nach und nach seine Welt mit allen
Sinnen, und bemüht sich, sich in dem, was es da draußen vorfindet, auch
zurechtzufinden – wenn es sich gestört oder gar bedroht
fühlt, beginnt es zu weinen.
Als „Rationalist in einer irrationalen Welt”
(P.A.
Shreffler)(3) spricht Sherlock
Holmes diese beiden Motive an: In den meisten seiner Fälle erklärt er
das jeweilige geheimnisvolle Geschehen logisch und bietet eine Lösung.
Indem er seinem Gedankengang folgt, kann der Leser Schritt seiner
eigenen Neugier nachkommen und miterleben, wie das Beunruhigende aus
dem Leben der Klienten entfernt wird.
Wie komplex, verwirrend – ja sogar realistisch – die Welt des Sherlock
Holmes an der Oberfläche auch erscheinen mag, in ihrem tiefsten Inneren
liegt ihr doch eine unerschütterliche Ordnung aus begreiflichen
Gesetzen zugrunde.(4) Dies hat
große Bedeutung für den Leser: Er mag sich etwa mit Sherlock Holmes
identifizieren und hoffen, von seinen Fällen zu lernen; er kann
in der besseren Welt der Erzählungen Zuflucht vor seinen eigenen
verstörenden Problemen nehmen und sich der Illusion überlassen, einige
davon wären in ähnlicher Weise zu lösen – oder er kann
schließlich auch einfach die prickelnde Spannung in einigen der
Geschichten genießén.(5)
Ein Großteil der Faszination für Sherlock Holmes wird daher wohl aus diesen beiden Quellen speisen: Die Erzählungen lassen das Bild einer Welt entstehen, die trotz ihrer vielen Vorzüge realistisch wirkt. In diesem Reich der Phantasie ist Sherlock Holmes der Mittler zwischen guten und bösen Kräften – ein vorbildlicher Charakter, den wir bewundern und lieben können. Es ist zweifellos die Leistung Conan Doyles, einen solchen Ort in der Vorstellung unzähliger Leser geschaffen zu haben. Und doch mag dies alles nur ein Teil der Wahrheit sein: Man sagt, Liebe lasse sich nicht erklären. Vielleicht lässt sich eine solch tiefe emotionale Verbindung, wie sie manche Leser zu Sherlock Holmes empfinden, ebenfalls nie angemessen analysieren.