Sherlock Holmes - Background to a Phenomenon (Header)
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3. Sherlock Holmes – Wurzeln in Wirklichkeit

3.1. Grundriss des historischen Hintergrunds

Eine Überblicksdarstellung des geschichtlichen Hintergrundes der Sherlock Holmes- Erzählungen. Ein Grudriss der  Zeit Holmes’ aus kritischer Deutung ausgewählter Quellen.

Obwohl es eher Verwirrung stiftet, von Holmes und Dr. Watson als  „zwei herausragende[n] Viktorianer[n]”  zu sprechen (1), ist der Werkkanon tief in diesem ‚goldenen Zeitalter britischer Geschichte’ verwurzelt.
Eine klarere Sicht dieser Epoche wird daher viele neue Lesarten eröffnen, da sie den Ursprung vieler Details zeigt, die ein heutiger Leser unbewusst als ungewöhnlich wahrnimmt. Was lässt sich in Kürze zum geschichtlichen Rahmen der Geschichten sagen?

Als quicklebendige Epoche rascher Veränderungen (2) bot das Viktorianische Zeitalter – und besonders seine aufblühenden großen Städte (3) – einen idealen Hintergrund für rätselhafte Geschichten aller Art .(4) Da seine eigene Lebensgeschichte voll eigenartiger Wendungen war, konnte Conan Doyle dies leicht für seine Geschichten nutzen. Darüberhinaus trugen zahlreiche Details viktorianischen Lebensstils viel zur Schönheit der Schauplätze bei.(5)
Das Vertrauen in Wissenschaft und Fortschritt ist bei weitem nicht die einzige viktorianische Haltung, die auf den Werkkanon prägenden Einfluss hatte:Auf vielerlei Art, jedoch hauptsächlich durch den Charakter ihrer Hauptfiguren (6), treten die Texte für zeittypische Werte ein, so etwa für „Charakterstärke, Pflicht(-bewusstsein), Willensstärke, Ernsthaftigkeit, harte Arbeit, respektables Verhalten und Sparsamkeit.(7) – in der Tat Werte von großer Anziehungskraft.
Holmes vereinigt sogar zwei positive männliche Rollenbilder in sich: Da er sich selbst einen einzigartigen Beruf geschafffen hat(8), ist er zweifellos ein ‚Self-Made-Man’, während ihn sein Verhalten zum vorbildlichen Gentleman macht. Aller Überlieferung nach hielt  Conan Doyle diese Werte nicht nur in seinem Werk, sondern auch im eigenen Leben hoch.
Desweiteren ist die viktorianische Klassendifferenzierung von essenzieller Bedeutung für den Werkkanon. In einer ‚individualistichen’ Gesellschaft wie der unseren, könnte sogar ein Genie wie Holmes womöglich nicht in der Lage sein, genau genug aus der äußeren Erscheinung eines Menschen zu lesen, um zu fundierten Schlüssen zu gelangen: Die Verlässlichkeit seiner Methode würde unweigerlich abnehmen(9).

Widersprüchlicherweise ist ein gewisses Sicherheitsgefühl ein abschließend wichtiger Faktor für den Werkkanon: Holmes  und Dr. Watson bewohnen ein „Universum, in dem Gewissheit ein Gemeinplatz ist: die Motive von Kriminellen […] sind gesichert; Sherlock selbst ist sich seiner Fähigkeiten und moralischer Werte gewiss .(10). Offenbar fühlten sich die Menschen viktorianischer Zeit – trotz aller epochalen Umbrüche – relativ sicher, da sie sich auf „Ballancen verschiedener Art” verlassen konnten, wie die Encyclopaedia Britannica festhält. Aufgrund all dieser Einflüsse verdankt die Welt des Sherlock Holmes einige ihrer faszinierenden Facetten dem fragwürdigen Glanz ihrer Epoche.

Nach dieser groben Skizze möchte ich die Aufmerksamkeit der Leser auf zwei Themenfelder lenken, die mir bei meiner ersten Begegnung mit dem Detektiv besonders ins Auge gefallen sind: die „Gerechtigkeitsproblematik” [3.3.] und die „Geschlechterrollen” [3.2.].


(1)
J. R. Wright: They Were the Very Models of the Modern Information Age, S. 16, in: 
C. R. Putney et al.: Sherlock Holmes, 1996. [Text]
(2)
Den Leuten,die zu dieser Zeit in Großbritannien lebten,  schien es, als sei die ihnen bekannte Welt fast über Nacht verschwunden
  aus: David Newsome: The Victorian World Picture (S.20 u.a.), 1997 (Ü.d.A.). [Text]
(3)
Vergleiche: David Newsome (‘Wold Picture’), S. 21. [Text]
(4)
Holmes:„Könnten wir […] über dieser großen Stadt schweben, […]  und in all die verqueren Dinge hineinspitzeln, die passieren die eigenartigen Zufälle, die Planungen, die sich überkreuzenden Absichten, die wunderlichen Ereignisketten, […] und die zu den abwegigsten Ergebnissen führen, würde das  jede erfundene Erzählung […] höchst schal und sinnlos werden lassen.
(aus "A Case of Identity")
. [Text]
(5)
siehe auch: Kapitel 4.2. . [Text]
(6)
Tatsächlich lassen sich viele Spuren davon in Watson's Nebenbemerkungen finden. [Text]
(7)
Im Original-Wortlaut: „‘character’, ‘duty’, ‘will’ ‘earnestness’, ‘hard work', respectable comportment […] and thrift.” – [values, indeed, of] "widespread appeal" (Ü.d.A.) nach: Encyclopaedia Britannica (CD-ROM, Standard Edition 2002) "Mid-Victorian society and culture". Online : www.britannica.com. [Text]
(8)
Holmes: „[…] Ich habe mir meinen ganz eigenen Beruf erwählt oder vielmehr: erst erschaffen […].(aus: The Sign of Four I/1), Ü.d.A. [Text]
(9)
In Anbetracht der heutigen Vielfalt der Lebensstile: Könnte ein geschulter Beobachter noch immer so selbstsicher sein wie Holmes, würde man ihn „in ein Dritte-Klasse-Abteil der U-Bahn stecken, und ihn bitten, jeweils das Gewerbe seiner Mitreisenden zu benennen” ?  (aus: A Study in Scarlet, I/2) (Ü.d.A.). [Text]
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www.text-traeger.de · Autor: Paul - Christoph Trüper (Deutsch: 2009).
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